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 Deutsche Krise?
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Jürgen


Deutschland
195 Beiträge

Erstellt am: 29.07.2004 :  11:52:24   Profil anzeigen  Autor eine Email senden  Besuche Jürgen's Homepage  Antwort mit Zitat
...hab ich aus Focus-Online, wollt ich euch nicht vorenthalten. Gruß

Deutsche Krise

Kein Trumpf im Moskauer Taxi

| 27.07.04 |
Was für Deutsche eine Krise ist, erscheint vielen Russen als Wunschtraum: Die Klagen über den Abschwung lösen in Moskau nur Kopfschütteln aus. Von Boris Reitschuster, Moskau.

„Was? Ihr habt eine Krise? Ihr Deutschen?“ Der Taxifahrer mit dem armbreiten Schnurrbart und Haaren wie einer Pelzmütze starrte mich mit offenem Mund an und riss vor lauter Schreck das Steuer Richtung Ufermauer. Beinahe drohten wir in der trüben Brühe der Moskwa zu landen. Dabei wollte ich doch nur den Preis drücken.

Fahrgast als Melkkuh

Ob bei Privatleuten, die ihr karges Gehalt nach Feierabend am Steuer aufbessern oder bei offiziellen „Taxisten“ in ihren schweren Wolgas – Ausländer gelten manchen Fahrern immer noch mehr als Melkkuh denn als Fahrgast. Auf den ersten Blick scheint der Preis in Moskaus Taxis Verhandlungssache zu sein. In Wirklichkeit gibt es aber offenbar psychologisch fein abgestimmte Tarife.

Wer sein Fahrziel mit leichtem Akzent nennt und gut gekleidet ist, zahlt schon mal 50 Prozent Aufpreis. Radebrechendes Russisch in Kombination mit Krawatte kann zum doppelten Fahrpreis führen. Besonders teuer zu stehen kommt den Passagier zuweilen Englisch: Grundsolide „Business-Männer“ made in USA berichten von dreifach überteuerten Preisen.

Psychologische Preis-Kriegsführung

Als Student habe ich mich oft als Lette ausgegeben, um Geld zu sparen – damals fuhren Balten zum „Inländer-Tarif“. Seit das Baltikum zur EU gehört, verlasse ich mich auf Bestell-Taxis mit Fixpreisen. Wenn ich in der Not dennoch am Straßenrand mit einem Fingerzeig den nächstbesten Wagen anhalte, wie es in Moskau üblich ist, führe ich den Preiskampf mit psychologischer Kriegsführung.

Ob es nun am georgischen Wein lag oder daran, dass der alte Lada-Samara unter der Last der Jahre schon beim Heranfahren schwer ächzte: Ich machte nach erfolgreichem Heranwinken einen Anfänger-Fehler und handelte den Fahrpreis nicht aus, bevor ich einstieg – und das bei einem Privatmann. Dem Wucher war damit Tür und Tor geöffnet.

Kaum ließ der tattrige Motor die rostige Metall-Konstruktion von der Ostoschenka-Straße mühsam losrollen Richtung Erlöser-Kathedrale und Uferstraße, schon begann die Mischung aus Alain Delon und kaukasischem Ziegenhirten am Steuer, mich zu taxieren – und das offenbar im wahrsten Sinne des Wortes.

Nato-Taktik im Preis-Poker

„Woher kommen Sie denn?“, fragte mein Chauffeur mit einer Stimme so tief wie ein Kontrabass. Es roch nach Benzin und billigem Parfüm früherer Passagiere, Marke „Rotes Moskau“. Kaum sagte ich „Deutschland“, zuckte ein Lächeln über sein Gesicht. Sein gewaltiger Schnurrbart bebte. Verdorben, wie ich bin, wollte ich nicht glauben, dass seine Freude allein aufrichtiger Liebe zu „Germania“ entsprang. Als er „schönes Land, sehr reich“ hinzufügte, läuteten alle Alarmglocken: Er treibt den Preis, sagte ich mir.

„Wir Deutschen sind doch jetzt ärmer als viele Russen; gegenüber euren Oligarchen stehen wir da wie ein russischer Landpfarrer gegenüber dem Papst“, antwortete ich in Vorwärts-Verteidigung – also ganz nach dem militärischen Motto, das einst die Nato gegenüber dem Warschauer Pakt pflegte. „Bei Ihnen geht es aufwärts, und wir haben eine Wirtschaftskrise“, fügte ich hinzu. Ich war über mein Ziel hinausgeschossen. Genauer gesagt – das Auto wäre fast über die Ufermauer hinausgeschossen.

„Sind die Banken kaputt?“

Statt auf die Straße blickte mein verhinderter Formel-1-Pilot am Steuer nur noch Richtung Beifahrersessel: „Mein Gott? Sind die Banken kaputt? Kommen die Leute nicht mehr an ihr Geld?“ Ich schüttelte den Kopf. „Die Währung? Der Euro kaputt?“ Wieder kam ich nur zum Kopfschütteln. „Probleme mit Lebensmittel?“ Nein. „Warteschlangen überall?“ – „Nur samstags im Supermarkt“; endlich konnte ich eine Bresche in seinen Wortschall schlagen: „Nein, nur weniger Wachstum, Sparen überall, etwa im Gesundheitswesen…“

Wieder unterbrach mich der wackere Kämpfer gegen das Moskauer Verkehrschaos. „Aha, müsst Ihr jetzt auch für Operationen selbst bezahlen, wie wir?“ Ich schüttelte den Kopf und blickte ängstlich Richtung Ufermauer, die wieder gefährlich nahe kam. „Nein, nein, so schlimm ist es nicht, es gibt nur eine Zuzahlung von zehn Euro pro Arztbesuch und Quartal“. Mein Fahrer lächelte bitter, sein Schnurrbart zitterte: „Ts! Meiner Mama musste ich 1000 Dollar bezahlen, für eine Operation am Kiefer, und bei Euch sind zehn Euro eine Krise?“

Kürzung beim Hosianna-Singen

Es war falsch, die Zahl 10 zu nennen, fuhr mir durch den Kopf. Am Ende sagt er noch, die Fahrt mit ihm sei nicht weniger Wert als ein Arztbesuch. „Bei der Arbeitslosenhilfe gibt es starke Kürzungen, die geht jetzt nach kurzer Zeit auf Sozialhilfe-Niveau“, fügte ich hastig hinzu. Zur Abwechslung zog er den Wagen nicht zur Ufermauer, sondern nach links, Richtung Gegenverkehr und ziegelsteinroter Kreml-Mauer.

„Arbeitslosengeld? Sozialhilfe? Kürzungen? Bei uns gäbe es da gar nichts zu kürzen!“ Er blickte mich verständnislos an, fast so, als hätte ich mich über Abstriche bei der Manna-Verteilung oder dem Hosianna-Singen im Paradies beklagt: „Na, Ihr habt Sorgen! So eine Krise wünsche ich mir!“

Was Russen gut tut, bringt Deutschen den Tod, besagt ein altes russisches Sprichwort, das noch auf den Nationaldichter Puschkin zurückgeht – und heute nicht zuletzt beim bilateralen Wodka-Trinken gerne angewandt wird. Offenbar muss die Redensart modernisiert werden: Was für Russen ein Wunschtraum ist, bedeutet für Deutsche eine Krise.

Eine Spur von Mitgefühl

Auch die Kürzung von Weihnachts- und Urlaubsgeld wird mich verhandlungstaktisch nicht weiterbringen, sagte ich mir. Also versuchte ich eine andere Stoßrichtung: „Die Arbeitszeit soll wieder erhöht werden, und es ist nicht mal ausgeschlossen, dass der Urlaub verkürzt wird“

Endlich etwas Hoffnung: Eine Spur von Mitgefühl war auf seinem Gesicht zu sehen, die Stirn in Falten, die Schnurrbartspitzen nach unten geneigt, Richtung Schultern. „Wie lange müsst Ihr denn künftig arbeiten? Und wie viel Urlaub habt Ihr heute? Was? Sechs Wochen? Anderthalb mal so viel wie wir? 40 Stunden die Woche? Da arbeite ich in meinem Chemie-Labor mehr, für 200 Euro im Monat – und fahre nach Feierabend noch jeden Tag Taxi!“

Die Krise taugt nichts

Mir kamen keine Preis-Argumente mehr in den Sinn. Doch Gott sei Dank waren wir fast Zuhause angekommen. Alle Schüsse sind nach hinten los gegangen, unsere Krise taugt nichts, sagte ich mir, und machte mich darauf gefasst, statt der üblichen 100 Rubel (zirka drei Euro) heute 150 für den Heimweg zu zahlen.

Quietschend bremste mein Ritter der Uferstraße sein rostiges Stahlpferd. „Machen wir 70 Rubel, weil Du es bist, und weil es so interessant war“, sagte er völlig unverhofft und lächelte breit: „Und grüße mir Deutschland! „Mein Bruder lebt dort! Es gefällt ihm sehr“.

Ich legte einen 100-Rubel-Schein auf das staubige Armaturenbrett neben die kleinen Plastik-Ikonen. „Ohne Wechselgeld“, sagte ich leise, und schlug in seine ausgestreckte Hand ein. Der Abschied war so herzlich, dass er mich fast an seinen Schnurrbart zog. Beschämt stieg ich aus – mit einer fast unschicklichen Frage im Kopf: Ob unsere Krise nicht auch darin besteht, dass wir zu sehr an die Krise denken?

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